DER SPIEGEL
Was nützen "Fake-News"?
von Dr. Bernd Seydel
Es schlug ein wie eine Bombe: Der Spiegeljournalist Claas Relotius hat viele Jahre lang bei seinen Beiträgen geschummelt, betrogen, gelogen, erfunden. Er hat das so geschickt gemacht, dass lange Zeit niemand beim Spiegel und anderen Zeitungen und Zeitschriften misstrauisch wurde. Er hat bedeutende Preise gewonnen, wurde für seine Reportagen geehrt und ausgezeichnet. Er wurde geachtet und ernst genommen. Sein Schreibstil war bemerkenswert, seine Inhalte Sensationen. Sie hatten nur einen schlimmen Schönheitsfehler: Sie waren weitgehend Fake-News. Als der Spiegel am 18.12.2018 diesen Sachverhalt öffentlich machte, tat er das mit aller Radikalität. Keine Beschönigungen, kein Kleinreden. Die Betroffenheit war echt, denn sie wurde thematisiert, und auch die Zweifel, die man an diesen Bekenntnissen hätte haben können. Die Chefredaktion startete sogleich mit der Ursachenforschung, berief externe Berater und begutachtet kritisch und unerbittlich die eigenen Prozesse. So berichtet sie selbst. Schließlich galt beim Spiegel ein klares Motto: Wir brauchen keine Gegendarstellungen, weil wir radikal der Wahrheit und den Fakten folgen. Die Aufarbeitung dieses Falls macht der Spiegel öffentlich – eine wichtige Entscheidung, um wieder Vertrauen zurückzugewinnen. Dass dieses System der Wahrheitsdarstellung hatte unterlaufen werden können, irritiert alle: die Redaktion, die Journalistenkollegen, die Eigentümer, die Preisgeber, die Leser, die Medien nutzen. Machen wir einen Sprung: Die Normalverteilung heißt Normalverteilung, weil sie normal ist. Die meisten der 100.000 Medienschaffenden (oder wie viele es auch sein mögen in Deutschland) sind normal. Sie machen ihre Arbeit normal. Einige von ihnen sind besonders gut, ganz wenige genial, noch weniger absolut Weltspitze. Leider gibt es aber auch die linke Seite der Normalverteilung. Hier finden sich die weniger guten Journalisten, die schlechten und die ganz schlechten. Und ganz weit außen gibt es jetzt Claas Relotius. Der Charmante, der Überflieger, der Lügner und Täuscher. Das ist nicht angenehm. Aber das Schlimmste an der Normalverteilung ist: Diese Extreme – im Guten wie im Schlimmen – werden niemals beseitigt werden können. Sie werden immer existieren. Ist die Gruppe nur groß genug, werden die Extreme immer wahrscheinlicher. Das gilt für die Gruppe der Journalisten genauso wie für die Gruppe der Arbeitenden, der Politiker, der Geflüchteten, der Immobilienentwickler, der Jugendlichen, der Erwachsenen, der … was auch immer. Aber die Sache mit der Normalverteilung hat noch einen anderen Aspekt. Wenn auf der einen Seite schamlos gelogen und verfälscht wird, dann wird auch im Normalbereich gelogen und verfälscht – nur nicht so drastisch. Und an dieser Stelle muss dringend der interne Lernprozess aller Journalisten beginnen: Haben sie schon einmal einen Sachverhalt so zugespitzt, dass er „spannend“ wurde? Haben auch sie ein „wahrscheinlich“ oder „vielleicht“ weggelassen und aus einem Zweifel eine Behauptung gemacht? Die Boulevardpresse macht diese kleinen Verfälschungen jeden Tag, indem sie suggestive Fragen stellt: „Bekommt Prinzessin Soundso Zwillinge von ihrem Chauffeur?“ Die Antwort: Nein, natürlich nicht. Oder: „Nimmt Schlagerstar Irgendwer Kokain?“ Nein, natürlich nicht – und so weiter. Wenn Medien in Kategorien der Zustimmung, der Clicks und Likes denken, dann spielt Wahrheit eine untergeordnete Rolle. Dann zählt nur noch Quote. Die Grenze ist fließend und Grenzüberschreitungen werden still geduldet. Bis ein Mann wie Claas Relotius kommt und es massiv übertreibt. Dann ist der Aufschrei laut – und man kann entspannt mit den kleinen Sünden weitermachen, denn die seien, gemessen an Relotius, ja harmlos. Nein, das sind sie nicht. Sie sind der Nährboden für die massive Verfälschung. Es liegt an uns Journalisten und an den Redaktionen, die Grenze zur Unwahrheit hart zu ziehen und nicht zu übertreten. Lüge, Verfälschung und auch die sensationsheischende Übertreibung sind kein Kavaliersdelikt. Sie sind Gift für eine freie Presse. Genug. Ich denke, wir haben das Problem verstanden.