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Doreen Huth, stv. Vorsitzende des DJV Thüringen

So müde … so stumpf

12.11.2020

Da ist nun der Aufruf meiner Gewerkschaft, mich laut und deutlich zu Leipzig und den Geschehnissen am 7. November 2020 zu äußern. Ganz ehrlich? Ich bin noch sprachlos, ich bin müde. Seit März. Seit klar ist, dass wir für lange Zeit uns mit einer nicht sichtbaren Bedrohung befassen müssen, die den Gesetzen der Natur und nicht der Politik folgt. Das Coronavirus ist kein Feind, es ist kein Kampf, es gibt hier keine Schlachten zu gewinnen, weil sich das Virus herzlich wenig um uns schert.

In einer Welt, in der ein jeder und jede glaubt, mit seiner Meinung und seinen Tweets Präsident*innen stürzen zu können und über alle Gesetzmäßigkeiten und Moralvorstellungen erhaben zu sein, in der es gilt, laut für (s)eine Sache einzustehen, da macht das Virus irgendwie sprachlos. Es legt sich wie ein unsichtbarer Teppich über unsere Gesellschaft, ein schwerer, erdrückender Teppich. Unsichtbar und nicht abstreifbar. Wir ächzen unter ihm und schreien dagegen an. Nur interessiert es einen Virus herzlich wenig, was wir zu sagen haben.

Nur die Wissenschaft hat anscheinend Zugang zu ihm. Und leider verwechseln wir ihre Auseinandersetzung mit der Natur des Virus und ihren öffentlichen Lernprozess mit Deutungshoheit.

Also hören wir die Wissenschaft sprechen und sollen selbst schweigen, wenn wir doch sonst dank sozialer Medien immer was zu sagen haben? Der Druck ist für einige, die auch sonst schon nicht gehört wurden, weil sie sich außerhalb des demokratischen Diskurses bewegten, nur schwer erträglich. Also schreien die wenigen los. Wollen auch Deutungshoheit für sich beanspruchen, können nicht akzeptieren, was ist. Sie tummeln sich schnell in dem Becken mit weiteren Minderheiten, die sich nicht auf dem gleichen Boden bewegen wie die Mehrheit unserer demokratischen Gesellschaft.

Bisher wurden sie nur wegen der Algorithmen in den sozialen Medien, zu gewinnender Wahlen und der Clickbaits vermeintlicher Presseberichterstattung hörbar. Eine Demokratie konnte damit umgehen. Mein Heilmittel: zivilisierte Verachtung. Eine Demokratie muss nicht annehmen und achten, was sie bedroht und verachtet. Wer nicht auf dem Boden der Demokratie steht, braucht nicht als „besorgte“ Bürger*innen wahrgenommen werden. Sie wollen nicht Teil unserer Gesellschaft sein, die auf einem fantastischen Grundgesetz fußt, also tun wir ihnen den Gefallen auch nicht.

Nun stecken wir aber alle gemeinsam unter diesem unsichtbaren Teppich namens Pandemie. Das Virus macht uns gleich. Wir sehnen uns nach Normalität und Sicherheit. Wir wollen wissen, womit wir es zu tun haben. Doch die Wissenschaft macht weiter ihre Arbeit, nur jetzt eben öffentlich. Das verunsichert noch mehr, weil sie sich nicht festlegen mögen. Wir wenden uns an die Politik. Und die sieht die Verantwortung zu handeln und fragt – wir sollten ihr dafür unbedingt danken – die Wissenschaft. Was wir aber sehen ist, wie Politik in diesen für uns so unverständlichen Diskurs der Wissenschaft eintritt und sich abmüht, Maßnahmen zu definieren. Sie wägen ab, sie entscheiden um, sie erklären und erklären und erklären. Und wir können es schon nicht mehr hören, weil unsere Aufmerksamkeit und unser Fassungsvermögen auf 42 Zeichen runtergeschrumpft sind.

Wer hat denn noch Zeit für all die Berichte? Wer kann denn das alles noch verarbeiten und gleichzeitig sich und seine Familie schützen im Homeoffice? Und dann sollen wir auch noch aufschreien, wenn in Paris gemeuchelt wird, wenn im Mittelmeer noch immer Menschen ertrinken, wenn Frauen in Polen ihrer Rechte beraubt werden, wenn immer und immer und immer das Leben zu einer Netflix-Serie wird? Wir sind satt. Wir sind müde. Und die wenigen außerhalb des Diskurses schreien noch immer.

Kraftlos können wir uns auch dem nicht mehr widersetzen. Zwischen Händewaschen, Abstand halten und Maske tragen wollen wir auch kritisch sein und uns ihnen entgegenstellen mit Fakten. Wir aber fürchten auch – zurecht – das Virus. Sie schreien, wir sitzen ohnmächtig am Rechner und verfolgen die laute Minderheit. Wir halten Abstand und bleiben ruhig, besonnen und, ja, auch still. Die Kraft der eigenen Empörung reicht gerade noch für einen Retweet.

Woher soll denn die Kraft zur Auflehnung kommen, wenn selbst die Instanzen, die wir für den Schutz der Grundrechte und des Grundgesetzes eingesetzt haben, versagen? Früher, vor Corona, da haben wir Menschen mobilisiert, in einen Bus gesetzt und eine Gegendemo gemacht. Wir sind zur Politik gegangen und haben ihr gezeigt, dass es so nicht geht. Heute, mit Corona, trauen sich die Besonnenen nicht. Und wenn, stehen sie abstandshalber vereinzelt und die Wucht ihrer Aussagen geht unter im Geschrei der unbelehrbaren Masse.

Was bleibt uns? Das Vertrauen in den Dialog von Wissenschaft und Politik? Neutrale Berichterstattung, die uns das Virus mal als zweite Pest und mal als Totalversagen der Politik verkauft? Das Vertrauen auf die eigene moralische und demokratische Basis, die auch aus den Fugen geraten ist, weil das Virus jeden und jede betrifft und jeder und jede gehört werden muss?

Wir wollen auch schreien, aber es gibt keinen Raum für uns zum Schreien unter dem Teppich. Und wenn alle schreien, dann hört auch keine*r mehr zu. Also diskutieren wir in den allabendlichen Talkshows, in Videokonferenzen, im Landtag, im digitalen Bürgerdialog, in Foren … und hier.

So müde. Es tut mir leid, ich kann nicht. Ich kann nicht anprangern, wie die Polizei sich in Leipzig wider besseren Wissens gegen die gewendet hat, die auf ihrer Seite stehen. Wie sie Journalist*innen bei der Ausübung des Grundgesetzes behindert hat, obwohl sie auf dem Landesverbandstag des sächsischen DJV im Oktober noch die Annäherung propagiert hat. Wie die sächsische Justiz immer mehr an Glaubwürdigkeit verliert und kapituliert vor einer Minderheit, die auch für sie eine Bedrohung ist. Wie die Politik in Sachsen immer mehr ihr wahres, ekelhaftes Gesicht zeigt. Wie die Bewältigung einer Pandemie und die damit einhergehenden Sorgen von der rechten Szene missbraucht werden. Wie unter dem Deckmantel der Kritik rechte Gesinnung salonfähig wird.

Ich will trauern, um die vielen an Corona Gestorbenen, um Samuel Paty, um George Floyd, um die getöteten Frauen (statistisch versucht in Deutschland jeden Tag ein Mann, seine Partnerin zu töten, an jedem dritten Tag gelingt es). Ich möchte trauern um die vielen namenlosen Ertrunkenen im Mittelmeer, um die Leidenden in Lesbos, um meinen Idealismus.

Ich verstehe mich seit meinem Studium als Stoikerin. Aber mittlerweile stumpfe ich auch ab. Mein Kompass ist mir vor Wut abhandengekommen. Eine Lösung? Habe ich leider nicht. Dies ist kein Text mit Happy End.

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