Sebastian Scholz, Geschäftsführer des DJV Thüringen
In Sachsen hat der Rechtsstaat endgültig kapituliert
Foto: Dr. Bernd Seydel
Am vergangenen Samstag (07.11.2020) mobilisierten die Gegner der Corona-Schutzmaßnahmen rund um die Bewegung „Querdenken“ nach Leipzig. Bei vorangegangenen Demonstrationen unter anderem in Berlin hatten die TeilnehmerInnen massiv gegen Auflagen verstoßen, gewaltsam Polizeisperren durchbrochen und konnten beispielsweise nur knapp daran gehindert werden, in das Reichstagsgebäude zu stürmen. In Leipzig kam es nach KollegInnenberichten erneut zu gezielten Angriffen auf JournalistInnen, die in ihrer Quantität und Qualität bislang aber einmalig sind. Ein Kommentar der Ereignisse von Sebastian Scholz:
Der folgende Text wird nicht schön. Er wird auch keine nüchterne und sachliche Analyse. Und er wird kein Versuch, Verständnis für die Vorgänge in Leipzig zu wecken oder auch nur für das Anliegen derer, die dort demonstrierten. Stattdessen wird er lang werden und die Lektüre nicht unbedingt angenehm.
Bereits die Genese der „Querdenken“-Demo biete Anlass, am gesunden Menschenverstand innerhalb der Institutionen dieses Landes und dieser Demokratie zu zweifeln. Die Stadt Leipzig hatte mit Blick auf die Corona-Beschränkungen und die erwarteten mindestens 20.000 TeilnehmerInnen eine Kundgebung auf dem Augustusplatz untersagt. Stattdessen wurde das wesentlich weitläufigere Messegelände zugewiesen, wo Mindestabstände problemlos hätten eingehalten werden können. Das Oberverwaltungsgericht Bautzen kippte diese Entscheidung unter Auflagen: „nur“ 16.000 Menschen, Mindestabstände und Mund-Nase-Schutz.
Schon an diesem Punkt fragte man sich, wo die für diesen Beschluss verantwortlichen Richter in den letzten Wochen gewesen sind. Längst ist klar, dass die TeilnehmerInnen dieser Demos gezielt und bewusst gegen diese Auflagen verstoßen. Aus deren Sicht ist das auch nur logisch: Ihr Protest richtet sich ja gegen diese Maßnahmen zum Infektionsschutz. Wie man annehmen kann, dass solche Auflagen auch nur irgendjemanden unter den „Querdenkern“ interessieren, erschließt sich der und dem Normaldenkenden nicht.
Richterliche Unabhängigkeit?
Möglicherweise haben sich die Bautzener Richter bei ihrer Entscheidung ja von der Ausgabe 11/2020 der „Sächsischen Verwaltungsblätter – Zeitschrift für öffentliches Recht und öffentliche Verwaltung“ inspirieren lassen. Darin veröffentlichte ein Rechtsanwalt aus Offenbach am Main unter der Überschrift „Nächste Epidemie Grippe – Zum Ausstieg aus der Corona-Pandemie“:
„Die Krankheit COVID-19 ist im Vergleich mit der gewöhnlichen Grippe keine wesentlich schlimmere. Die öffentliche Gesundheitsversorgung ist nicht kollabiert. Nichtsdestotrotz dauert der Lockdown des öffentlichen Lebens in einzelnen Bereichen noch an und bedeutet vereinzelt massive Grundrechtseingriffe. Was müssen die Länder beim Ausstieg aus diesem COVID-19-Zustand sowie bei einer nächsten Grippewelle beachten?“ (Quelle)
Im Impressum der „Sächsischen Verwaltungsblätter“ sind als Mitglieder der dreiköpfigen Redaktion zwei Richter des OVG Bautzen aufgeführt (Quelle). Einer von beiden ist laut Geschäftsverteilungsplan des sächsischen Oberverwaltungsgerichts Vorsitzender Richter des 6. Senats. Und dieser 6. Senat trifft Entscheidungen im Sachgebiet Vereins- und Versammlungsrecht, dürfte also mutmaßlich auch über die „Querdenken“-Demo entschieden haben (Quelle). Hierauf einen journalistischen Blick zu werfen und Entscheidungswege kritisch zu hinterfragen, könnte sich lohnen.
Man kann davon halten, was man will und sich seinen Teil denken. Aber ich persönlich glaube nach wie vor an die richterliche Unabhängigkeit, auch wenn mir einige Entscheidungen manchmal etwas weltfremd erscheinen. Die zur Demonstration am 7. November in Leipzig gehört dazu. Aber in einem Rechtsstaat sind letztinstanzliche Richtersprüche zu akzeptieren, auch wenn man ihnen nicht zustimmt. Und Polizei und Ordnungsämter sind dann diejenigen, die dafür sorgen müssen, dass zugesagte Versammlungen sicher ablaufen – für alle Beteiligten.
Pressefreiheit ist zu schützen
Das schließt auch die berichtenden KollegInnen ein. Doch schon im Vorfeld der Demonstration hätte man erkennen können, dass einige der eingesetzten PolizistInnen den Schutz der Pressefreiheit an diesem Tag nicht zu ihren Kernaufgaben zählten. Vielleicht auch einige mehr. Während sich bspw. Rechtsextreme und Hooligans (Quelle; Quelle) sammeln und JournalistInnen teils bedrohen konnten, wurden durch BeamtInnen die persönlichen Daten ebendieser JournalistInnen aufgenommen. Wegen angeblich fehlender Drehgenehmigungen im Hauptbahnhof (Quelle).
Diese Rechtsextremen und Hooligans (Quelle) sollten noch eine entscheidende Rolle im Laufe des Samstags (07.11.20) spielen, nachdem die „Querdenker“-Demonstration von der Leipziger Ordnungsbehörde beendet wurde. Denn die Veranstalter hatten zwar immer wieder auf die Auflagen bezüglich des Mindestabstands und Tragens einer Mund-Nase-Bedeckung hingewiesen. Erwartungsgemäß hielt sich die Mehrheit der TeilnehmerInnen aber nicht daran (Quelle).
Nun wäre es an der Polizei gewesen, die Entscheidung der Ordnungsbehörde durchzusetzen. Genau das geschah aber nicht. Stattdessen gab es Verbrüderungsszenen zwischen Demonstrierende und Polizei (Quelle). Und die „Querdenker“ dachten gar nicht daran, ihre Versammlung selbst aufzulösen (Quelle). Im Schutz der einbrechenden Dunkelheit bliesen die anwesenden Hooligans und gewaltbereiten Rechtsextremen zum Angriff: Die Drohungen waren schon zuvor immer unverhohlener geworden (Quelle) und mündeten nun in tätlichen Angriffen auf JournalistInnen (Quelle). Und auch auf PolizistInnen (Quelle).
JournalistInnen als Zielscheibe
Das alles war absehbar gewesen. Die Auflagenverstöße, die Teilnahme von Rechtsextremen an der Demo, die Angriffe. Mehrfach hatten KollegInnen darauf hingewiesen – und auch darauf, dass von den eingesetzten PolizistInnen keine Hilfe zu erwarten ist (Quelle). Stattdessen fanden sich JournalistInnen plötzlich selbst in polizeilichen Maßnahmen wieder (Quelle).
Man muss diese Vorgeschichte kennen, um zu verstehen, was jetzt kommt:
In Leipzig konnte man am Wochenende die Kapitulation des Rechtsstaates beobachten. PolizistInnen zeigten sich nicht nur unfähig, das Grundrecht der Pressefreiheit zu wahren und JournalistInnen vor Angriffen zu schützen, sie zeigten sich sogar unwillig. Wie nennt man das, wenn die Exekutive die Basis unserer Demokratie nicht zu schützen gewillt ist? Ja, diese sogar aktiv unterminiert? Staatsstreich?
Und wieder ist es Sachsen. Das Bundesland, in dem die Menschen „immun gegen Rechtsextremismus“ sind (Quelle). Das Land, in dem Innenminister Roland Wöller von einer friedlichen Versammlung der „Querdenker“ berichtet (Quelle), um gleichzeitig die brennende Mülltonne in Connewitz mit scharfen Worten zu verurteilen. Das sollte wohl nachträglich den Einsatz von drei Wasserwerfern und zwei Räumpanzern dort rechtfertigen. Kein Wort zu über 40 dokumentierten Übergriffen auf JournalistInnen (Quelle). Kein Wort zu den 1.000 Rechtsextremen und Hooligans, kein Wort zu den Angriffen auf die Polizei. Stattdessen ein Bundesinnenminister Horst Seehofer, der meint, man solle doch aufhören, staatliches Handeln im Nachhinein zu hinterfragen (Quelle). Wir JournalistInnen hinterfragen aber. Im Vorhinein und im Nachhinein. Das ist unser Job und der ist umso notwendiger, wenn andere ihren Job nicht machen.
Unterstützung für DemokratiegegnerInnen
All diese Ereignisse sind Puzzlesteine, die sich zu einem traurigen Bild zusammenfügen: Die Demokratie in diesem Land ist deutlich stärker in Gefahr als bislang vermutet. Denn die Verwirrten, die gegen ein Virus, gegen angebliche Zwangsimpfungen, gegen Bill Gates, die NWO und was sonst noch alles demonstrieren und in weiten Teilen ernsthaft der Auffassung sind, dass sie in einer Diktatur leben, sind zwar problematisch. Aber brandgefährlich werden sie, wenn sie von staatlichen Stellen gedeckt und unterstützt werden.
Nein, ich möchte hier keine Panik machen. Das tun diese Menschen derzeit zu Genüge. Sie werfen unseren KollegInnen vor, nicht sauber zur recherchieren, ohne ihre Vorwürfe zu belegen. Sie verbreiten Unsicherheit, indem sie Behauptungen über das Coronavirus und die Pandemie streuen, die durch nichts belegt sind – bspw. dass Kinder wegen des Tragens eines Mund-Nase-Schutzes gestorben sind (Quelle). Sie outen sich als Anhänger der verschiedensten Verschwörungstheorien, worunter die der QAnon-Bewegung wahrscheinlich die verrückteste ist (Quelle).
Als Geschäftsführer des DJV Thüringen, als Journalist, fordere und verlange ich von denjenigen, die den Eid geleistet haben, unser Grundgesetz zu schützen und zu verteidigen, dass sie Entscheidungen der Gerichte und Ordnungsbehörden umsetzen. Dass sie unsere Demokratie verteidigen, indem sie freie Berichterstattung ermöglichen und nicht behindern. Dass sie den bundeseinheitlichen Presseausweis kennen und anerkennen.
Dieses Land hat sich, auch und gerade nach den Erfahrungen mit der barbarischen Diktatur der Nationalsozialisten, mit dem Grundgesetz ein Regelwerk für das Funktionieren unserer Demokratie gegeben. In diesem Grundgesetz ist der Wert des Journalismus als Garantie der Presse- und Rundfunkfreiheit in Artikel 5 als unumstößliches Grundrecht definiert. Unabhängige Berichterstattung ist ein Kern einer freiheitlichen Gesellschaft. Wenn diese Grundwerte infrage gestellt werden, ist unsere Demokratie gefährdet. Nicht durch ein Virus, sondern durch die Menschen, die verantwortungslos handeln und diese Grundordnung mit Füßen treten.